Geschlechtsunterschiede in der Intelligenz
Teil 5: PIAAC 2012/2014 – Lesekompetenz von Erwachsenen
Der Vergleich von PISA und PIAAC zeigt im Hinblick auf die Lesekompetenz: Während die 15-jährigen Mädchen in PISA viel besser abschnitten als die Jungen, haben bei den Erwachsenen die Männer einen leichten Vorsprung. Die Varianz ist bei den Männern ist um 10 Prozent größer als bei den Frauen.
Zum Beginn dieser Serie → Geschlechtsunterschiede in der Intelligenz – Teil 1.
Im → Teil 3 haben wir Geschlechtsunterschiede in der Intelligenz von 15-Jährigen auf der Grundlage von PISA 2015 betrachtet.
Nun betrachten wir Geschlechtsunterschiede in der Intelligenz von Erwachsenen auf der Grundlage von PIAAC 2012/2014 [1] [2].
Dabei konzentrieren wir uns in dieser Folge auf die Lesekompetenz.
Wie im → Teil 4 beschrieben, umfasst PIAAC den Altersbereich von 16 bis 65 Jahren. Eine Untergliederung in Dekaden ergibt fünf Altersgruppen: 16-24, 25-34, 35-44, 45-54 und 55-65 Jahre. Aus der Kombination von 31 Ländern und 5 Altersgruppen ergeben sich 155 voneinander unabhängige Teilstichproben. Diese außerordentlich umfangreiche Datenbasis zusammen mit PISA 2015 gibt Aufschlüsse über Lynns Entwicklungshypothese und die Varianzhypothese, die im → Teil 2 formuliert wurden.
In Bezug auf das Leistungsniveau in der Lesekompetenz hatte PISA 2015 für die Fünfzehnjähigen ein außerordentlich klares Bild ergeben:
Ohne eine einzige Ausnahme erzielten in allen 72 Ländern Mädchen bessere Leistungen als Jungen.
In den 35 OECD-Ländern betrug der Vorsprung der Mädchen im Mittel 27 Punkte; das entspricht einer Effektstärke von d=-0,28.
Gemäß Lynns Entwicklungshypothese ist zu erwarten, dass bei Erwachsenen der Vorsprung der Frauen kleiner ausfällt oder gar völlig verschwindet. Genau das ist auch der Fall.
In 97 der 155 Teilstichproben zeigen die Männer eine größere Lesekompetenz als die Frauen, in 58 Teilstichproben ist es umgekehrt. Das entspricht einem Verhältnis von 63 zu 37 Prozent.
Obgleich die Länderzählung eindeutig zugunsten der Männer ausfällt, ergeben sich im Hinblick auf das Leistungsniveau nur minimale Unterschiede. Die Effetkstärke d beträgt +0,04. Das heißt, die Männer schneiden um 0,04 Standardabweichungseinheiten besser ab als die Frauen. Dieser Unterschied ist für sich genommen bedeutungslos – er muss jedoch vor dem Hintergrund beurteilt werden, dass in PISA 2015 die 15-jährigen Mädchen in den OECD-Ländern einen Vorsprung von 0,28 Einheiten hatten. Umgerechnet auf eine IQ-Skala bedeutet dies: Aus einem Vorsprung von 4,2 IQ-Punkten für die Mädchen ist ein Vorsprung von 0,6 IQ-Punkten für die Männer geworden. Das ist eine Veränderung von fast 5 IQ-Punkten! Hier ist selbstverständlich zu beachten, dass die Aufgaben in PISA und PIAAC nicht dieselben sind und dass die Zusammensetzung der Länder sich ein wenig unterscheidet.
Lynns Entwicklungshypothese wird noch eindrucksvoller bestätigt, wenn man die Altersgruppen getrennt betrachtet. Tabelle 5.1 zeigt in der Spalte NM>F die Anzahl der Länder, in denen die Männer besser abschnitten als die Frauen und in Spalte d die Effektstärke.
NM>F = Anzahl der Länder, in denen Männer besser abschneiden als Frauen (von jeweils 31 Ländern).
d = Effektstärke (Mittelwert der Männer minus Mittelwert der Frauen dividiert durch die gemeinsame Standardabweichung).
Alter | NM>F | d |
16-24 | 12 | -0,04 |
25-34 | 21 | 0,02 |
35-44 | 22 | 0,06 |
45-54 | 20 | 0,05 |
55-65 | 22 | 0,09 |
Gesamt | 97 | 0,04 |
Die Gruppe 16-bis-24-Jährigen enthält noch zahlreiche Heranwachsende, bei denen die Entwicklung noch nicht abgeschlossen ist. Hier haben die jungen Frauen noch einen winzigen Vorsprung. Bei den 25-34-Jährigen gibt es hingegen einen winzigen Vorsprung für die Männer. In den älteren Gruppen ist der Vorsprung der Männer dann noch ein wenig größer, aber der Unterschied ist sehr moderat.
Tabelle 5.2 gibt Aufschluss über die Varianzhypothese, die besagt, dass die Varianz zwischen den Männern größer ist als zwischen den Frauen. Die Spalte NVM>VF zeigt die Anzahl der Länder, in denen dies zutrifft; die Spalte VM/VF zeigt den Quotienten Varianz der Männer dividiert durch die Varianz der Frauen.
NVM>VF = Anzahl der Länder, in denen die Varianz zwischen Männern größer ist als die Varianz zwischen Frauen (von jeweils 31 Ländern).
VM/VF = Varianzquotient (Varianz der Männer dividiert durch die Varianz der Frauen).
Alter | NVM>VF | VM/VF |
16-24 | 25 | 1,15 |
25-34 | 23 | 1,08 |
35-44 | 25 | 1,09 |
45-54 | 25 | 1,08 |
55-65 | 25 | 1,10 |
Gesamt | 123 | 1,10 |
Insgesamt zeigt sich die größere Varianz in 123 der 155 Gruppen (79 Prozent) bei den Männern. Dieses Verhältnis ist in allen Altersgruppen nahezu identisch. Im Mittel ist die Varianz zwischen den Männern um 10 Prozent größer als bei den Frauen. Auch dies ist in allen Altersgruppen mehr oder weniger dasselbe. Somit gibt sich eine klare Bestätigung der Varianzhypothese.
In der nächsten Folge betrachten wir Geschlechtsunterschiede in der alltagsmathematischen Kompetenz. Auf die Lesekompetenz kommen wir später in der gemeinsamen Diskussion der drei Bereiche zurück.
Hier gibt es die Fortsetzung → Geschlechtsunterschiede in der Intelligenz. Teil 6: PIAAC 2012/2014 – Alltagsmathematische Kompetenz von Erwachsenen
Literatur
[1] Rammstedt, B. (2013). Grundlegende Kompetenzen Erwachsener im internationalen Vergleich. Ergebnisse von PIAAC 2012. Münster: Waxmann.
[2] NCES National Center for Educational Statistics: International Data Explorer. PIAAC Data Explorer.
https://nces.ed.gov/surveys/piaac/ideuspiaac/
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Stichwörter:
Bildung, Intelligenz, PIAAC, PISA, Lesekompetenz, Geschlecht, Geschlechtsunterschiede, Erwachsene
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